Atelier, Wien, Oktober 2014
KR: Wir haben im Jahr 2009 anlässlich deiner großen Ausstellung im Museum moderner Kunst in Wien (MUMOK) über deinen Werdegang und über wichtige künstlerische Projekte gesprochen. In Fortsetzung dieses Gesprächs von damals würde ich mit dir heute gerne ausführlicher über einige zentrale Aspekte deiner Arbeiten reden. Da wäre zunächst einmal die Frage des Raumes. Die Theorie hat seit den 1960er Jahren die Erfahrung von Raum als maßgebliche Determinante unterschiedlicher Welterklärungsmodelle ins Zentrum des Diskurses gestellt. Geprägt von der digitalen Revolution, die beginnend mit den frühen 1990er Jahren unsere Lebenswirklichkeit grundlegend verändert hat, ist ein neuer Raum entstanden, der als gleichermaßen real wie fiktional, öffentlich wie privat beschrieben wird. Eine Art Zwischenraum, ein ortloser Raum, zugleich ein Hier und ein Überall. Einen solchen Raum scheint mir auch deine Installation im Zwischengeschoss der U-Bahn-Station Karlsplatz in Wien zu behaupten, die du 2012 realisiert hast. Was sind deine Bezugsysteme für die Schaffung von Räumen?
PK: Von Anfang an war mein Bezugsystem weniger der real existierende, sondern vielmehr der mediale oder mediatisierte Raum. Das hatte zunächst vor allem mit meinem Interesse für Filmarchitektur zu tun, also für den gebauten Raum, der speziell für eine Filmproduktion geschaffen wird. Und der damit auch losgelöst ist von Fragen nach seiner Funktion, seiner Nutzung, von Fragen nach den Unterscheidungen zwischen privat oder öffentlich, usw.
Von besonderem Interesse war für mich die Filmarchitektur des deutschen Expressionismus, dabei wiederum besonders die des Science-Fiction Films. „Metropolis“ von Fritz Lang etwa. Hier überschneiden sich übrigens auch beide Filmgenres.
Mit dem Aufkommen der neuen digitalen Technologien habe ich dann begonnen, mich in meinen künstlerischen Projekten selbst mit dem medialen Raum auseinanderzusetzen. 1984 begann ich mit dem Computer zu arbeiten. Dabei waren für mich nicht nur die Graphikprogramme wichtig, sondern auch die Computerspiele und der besondere Bildraum, der daraus resultierte und auf den die Filmarchitektur großen Einfluss hatte.
KR: Deine Arbeiten thematisieren und besetzen auf vielfältige Weise Raum. Dabei agierst du vorwiegend mit den Räumen, wie du sie vorfindest, ob nun Ausstellungsräume, privater oder öffentlicher Raum. So auch bei deinem 2012 verwirklichten Projekt für die U-Bahn-Station Karlsplatz.
PK: Bei diesem Projekt war ich in der glücklichen Lage, den Ort dafür selbst aussuchen zu können. Das Zwischengeschoss in der Station Karlsplatz ist mir dabei als der mit Abstand interessanteste Raum erschienen, sowohl in seinen Dimensionen als auch in allen anderen architektonischen Gegebenheiten ideal für meine Arbeit. Und er schien ohne eindeutig bestimmbare Funktion zu sein. Es handelt sich nur um eine Art Verteilerraum, von dem aus man von einer Rolltreppe zur anderen gelangt. Interessanterweise ist dieser Raum bis dahin auch niemandem besonders aufgefallen. Er war in der Vorstellung als Ort nicht präsent.
KR: Und darin das völlige Gegenteil zum in jeder Hinsicht äußerst präsenten Hauptraum der Secession, dem Ort deiner legendären Installation aus dem Jahr 1995. Wie kam es zur Entscheidung, deine Secessionsausstellung – beinahe zwei Jahrzehnte später und nur wenige hundert Meter entfernt – formal sehr ähnlich in einen Raum im Zwischengeschoss der U-Bahn-Station Karlsplatz zu übertragen?
PK: Ausgangspunkt war für mich die Frage danach, was von dem Vokabular, das ich über die Jahre hinweg entwickelt habe, am besten für diesen Ort funktionieren würde. In der U-Bahn-Situation war das Röhrensystem naheliegend. Und da gab es eben den glücklichen Umstand, dass ich 17 Jahre zuvor und 200 Meter entfernt eine Arbeit mit Röhren in der Secession realisiert habe.
KR: Der Hauptraum der Secession hat einen ganz anderen Charakter als die U-Bahn-Station am Karlsplatz. Er wird als „totaler Raum“ bezeichnet, der alles in ihm auf einen Blick erfassbar macht. Der Raum deiner Intervention in der U-Bahn-Station hingegen ist ein unübersichtlicher Durchgangsraum. Insofern musste die Wahrnehmung deiner Arbeit in der Secession eine andere sein. Auch in der U-Bahn-Station scheint das Netzwerk aus computergenerierten Röhrenformen die Grenzen der Architektur aufzulösen, aber anders als in der Secession verstärken die Röhrensysteme hier nicht nur die Wahrnehmung der Transferfunktion des Raumes, sondern auch seine besondere Ortlosigkeit. Du hast bereits gesagt, dass die Wahl dieses Raumes kein Zufall war.
PK: Eigenartiger Weise ist es mir sogar im Ausstellungskontext oft passiert, dass ich meine Arbeiten in Treppenhäusern, Korridoren oder Eingangshallen gezeigt habe. Also eben nicht im Ausstellungsraum, sondern in den Zwischen- oder Durchgangsräumen, die dezidiert nicht für das Ausstellen von Kunst gedacht waren und stattdessen die Funktion haben, von A nach B zu gelangen.
KR: Konntest du dir diese Räume immer selbst auswählen?
PK: Sie sind mir anfangs von den Kuratoren und Kuratorinnen angeboten worden. So zum Beispiel von Jan Hoet für die documenta 9 von 1992. Er wollte meine Arbeit im Entree-Bereich des Fridericianums zeigen. Auch dabei handelt es sich um einen Durchgangsraum, von dem aus man in die einzelnen Ausstellungsräume der documenta gelangt. Ich denke, dass Jan Hoet und Denys Zacharopoulos klare Überlegungen hatten, warum sie meine Arbeit in einem solchen Raum installiert haben wollten. Im Nachhinein ist meine Erklärung dafür die, dass es meine Arbeiten zulassen, nicht nur kontemplativ vor ihnen zu verweilen, sondern sie vermitteln Informationen, die schnell kommunizierbar sind. Es sind Arbeiten, die in gewisser Weise mehrfach kodiert sind. Sie lassen sich in einen kunsthistorischen Zusammenhang stellen oder auch ohne Zusatzwissen ganz unmittelbar im Vorbeigehen wahrnehmen.
KR: Du hast vorhin über den Einfluss der Filmarchitektur gesprochen. Sylvia Eiblmayr stellt in einem ihrer Texte über deine Arbeit die These auf, dass du mit den digital inszenierten Innenräumen eine postmoderne Version des Raumes geschaffen hast. Wie siehst du das?
PK: Ich sehe eher Berührungspunkte zur Moderne. Das Rohrmotiv, das ich sowohl in den Animationen, als auch in der Secessionsausstellung oder in der U-Bahn-Station verwendet habe, ist eigentlich ein Grundbaustein der Moderne. Das taucht im Kubismus etwa bei Fernand Léger oder auch bei George Braque in den 1910er Jahren auf.
KR: Auch die Dynamisierung der Architektur durch das Rohrmotiv könnte als Grundtopos der Moderne gesehen werden.
PK: Ja, denkt man an Moholy-Nagys berühmten „Licht-Raum-Modulator“ von 1930 oder die konstruktivistischen Räume der russischen Avantgarde wie jene von El Lissitzky.
KR: Du hast vorhin davon gesprochen, dass deine Arbeiten mehrfach kodiert sind und somit auch unterschiedliche Zugänge und Interpretationen zulassen. Könnte man nicht darin einen postmodernen Aspekt sehen? Denn auch für die Postmoderne ist die Mehrfachkodierung charakteristisch, wie etwa die Verbindung von elitären und populären Zugängen, von Fiktion und Wirklichkeit.
PK: Für mich ist der Aspekt der Mehrfachkodierung aber kein spezifisch postmodernes Phänomen. Auch Marcel Duchamps Werke sind zum Beispiel so beschaffen, dass sie unterschiedliche Interpretationen zulassen.
KR: Das Prinzip der Wiederholung, das deine Arbeiten prägt, könnte in diesem Zusammenhang eine ebenso interessante Rolle spielen. Ein Prinzip, das sich je nachdem wo und wie es sich manifestiert, als avantgardistisches Prinzip des Seriellen bzw. als Kommentar zur aktuellen gesellschaftspolitischen Situation lesen lässt.
PK: Die Wiederholung ist für mich eine Methodik. Wie in einer Versuchsreihe lassen sich verschiedene Varianten ein- und desselben Motivs ausloten und testen, was wie und wo funktioniert und die beste Lösung ist. Darin spiegelt sich auch die Realität meines Arbeitsprozesses wider, speziell wenn ein technisches Medium involviert ist. Die subjektive Handschrift oder die Ich-Problematik wird durch die Wiederholung in den Hintergrund gedrängt. Das ist mir eigentlich sehr angenehm. Es findet eine gewisse Versachlichung statt. Denn wenn es nicht ein einziges, sondern zehn oder fünfzig Varianten eines Motivs oder Projektes gibt, relativiert sich alles, was mit dem expressiven Ich zu tun hat.
KR: Bei der Schaffung deiner Räume spielt ausdrücklich auch die Zeit eine Rolle. Das lässt sich bei deinen Tapetenräumen wie bei allen computergenerierten Innen- und Außenräumen nachvollziehen. Du eröffnest mit diesen Arbeiten gewissermaßen eine unendliche, virtuelle Zeitachse, die in eine Zukunft deutet. Darin könnte man eine andere Parallele zur Moderne und deren unbedingten Glauben an den Fortschritt erkennen.
PK: Ja, das Weiterdenken einer Utopie, die aus technologischen Entwicklungen resultiert, also von etwas, das im Westen seit den 1970er Jahren immer auch von einem gewissen Kulturpessimismus überlagert war. Das ist etwas, das in Filmen wie Alien und Blade Runner von Ridely Scott oder den Mad Max Filmen sehr deutlich sichtbar wird. Science Fiction trifft hier auf eine Situation, in der ökologisch alles tot ist.
KR: Was meinst du mit „Kulturpessimismus“?
PK: Wir leben in der paradoxen Situation, dass es noch nie in der Vergangenheit in ähnlichem Tempo zu Innovationen und Erfindungen gekommen ist wie heute und diese doch gleichzeitig begleitet werden von einer absolut pessimistischen Sicht auf die Kultur. Diese Mischung ist sehr merkwürdig. Das unterscheidet unsere Zeit grundlegend von den 1960er Jahren.
KR: Du bist in den 1960er Jahren aufgewachsen.
PK: Ja. In einer Zeit, in der man auf dem Mond gelandet ist. Das waren prägende Kindheitseindrücke für mich.
KR: Die 1960er Jahre als die Zeit des Glaubens an die Zukunft und die Möglichkeit der Verwirklichung von Utopien.
PK: Ganz im Unterschied zu heute. Wenn man sich den Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre anschaut, dann gab es eine Parallelität von wissenschaftlich, technologischer Entwicklung und gesellschaftlichen Überzeugungen des Fortschritts. In diesem Zusammenhang wurde auch über verschiedene politische und ideologische Systeme nachgedacht. Die Idee des Fortschritts, des Glaubens an eine Zukunft ist heute weitestgehend abhandengekommen, zumindest in Europa und Nordamerika.
KR: Zukunft ist ein zentraler Faktor für die Konzeption von Zeit. Mit vielen deiner Arbeiten generierst du eine virtuelle Zeitperspektive der mutmaßlich unendlichen Fortschreibung. Dabei scheint der computergesteuerten Maschine besondere Bedeutung zuzukommen.
PK: Ich hatte immer schon großes Interesse daran, inwieweit sich mein visuelles oder künstlerisches Vokabular durch technologische Entwicklungen und mediale Verschiebungen verändern kann. Das ist etwas, das ich ständig beobachte und wodurch ich auch meine Arbeiten immer wieder nachjustieren muss. Darin liegt wahrscheinlich auch der Grund, warum ich mich entschieden habe, mit einem sehr reduzierten visuellen Vokabular zu arbeiten. Denn nur aufgrund der wenigen Motive ist es für mich möglich, diese formal auszuloten.
KR: Kannst du Projekte nennen, die durch eine neue technologische Entwicklung möglich wurden?
PK: Das Projekt „Cave“ zum Beispiel, das 1999 als Auftragsarbeit für die Ars Electronica in Linz entstanden ist. Es ist ein computergeniertes, dreidimensionales virtuelles Raumgebilde, das man interaktiv nutzen kann. Wir haben damals technologisches Neuland betreten. In Österreich standen zwei Maschinen zur Verfügung. Sie befanden sich im universitären Bereich. Auch die 360 Grad Projektion in meiner Ausstellung im KUB in Bregenz im Jahr 2000 war nur möglich, weil es neue Projektoren gab, die eine Animation in diesem Maßstab möglich machten.
KR: Über deine künstlerische Haltung, nur mit wenigen Motiven zu arbeiten schreibt Boris Groys in seinem Text „Das unendliche Undsoweiter“, dass die Reduktion auf das Wesentliche ein Charakteristikum der klassischen Avantgarde sei. „Um ein klares und erfüllbares Programm formulieren zu können, (muss) viel historischer Ballast“ abgeworfen werden, „alles Zufällige, Zeit- und Ortspezifische, um sich auf das Wesentliche und Universale konzentrieren zu können.“
In diesem Zusammenhang ist auch deine Entscheidung interessant, mit einem sehr reduzierten Farbspektrum zu arbeiten, das sich fast ausschließlich auf schwarz, weiß und rot beschränkt.
PK: Das ist nicht zufälligerweise auch das Vokabular, mit dem die Künstler am Bauhaus oder die russischen Avantgardisten gearbeitet haben. Die Reduktion auf die drei Farben hat für mich einen sehr pragmatischen Aspekt. Mit Schwarz-Weiss ist man auf die Bildstruktur zurückgeworfen. Wenn man daran interessiert ist, etwas formal zu entwickeln oder zu verschieben, ist Schwarz-Weiss als visuelles Vokabular meist eine gute Entscheidung.
KR: Trotz dieser Reduktion oder gerade ihretwegen erscheinen die Räume, die mit schwarz-weißen oder roten Modulen definiert sind, auch emotionalisiert.
PK: Durch das Schwarzweißraster ist ein maximaler Kontrast gegeben, der eine sehr starke visuelle Präsenz hat. Man ist völlig umgeben von der Bildstruktur. Man steht gewissermaßen im Bild, wodurch die Arbeit auch körperlich wahrnehmbar wird.
KR: Trifft das auf die Tapetenräume ebenso zu wie auf die Räume, die durch Computeranimationen und Videobild generiert werden?
PK: Es trifft auf beides zu. Bei den Computeranimationen kommt noch hinzu, dass die grundsätzlichen Kategorien wie links, rechts, unten, oben aufgehoben werden, weil der Raum beispielsweise zu rotieren beginnt, abstürzt, aufsteigt oder sich neigt. Das beeinflusst die Wahrnehmung direkt, weil ganz primäre Erfahrungen, an die wir gewohnt sind, unterlaufen werden. Zusätzlich verstärkt wird dies deutlich durch den Sound, der von Franz Pomassl seit Ende der 1990er Jahren entwickelt wird. Er setzt den Sound meist wie ein skulpturales Material ein.
Bei den 360 Grad Projektionen gibt es übrigens das häufig zu beobachtende Phänomen, dass kleine Kinder die Wände entlanglaufen, Teenager am Boden sitzen und Erwachsene im Raum herumstehen.
KR: Im Zusammenhang mit der vorhin erwähnten These vom postmodernen Raum sieht Sylvia Eiblmayr in deinen computeranimierten Räumen einen Nachhall der „modernen Angst“, wie sie als Erfahrung auch im expressionistischen Film der 1910er und 1920er Jahre angelegt sei.
PK: Das war auch in den 1980er Jahren ein Grundtopos, als ich mich für die Filmarchitektur interessiert habe. Es gab damals einen Rückgriff auf Formalismen der Zwischenkriegszeit. Sowohl im späten Punk als auch im New Wave, aber auch in der Mode und im Film. So spielt im bereits erwähnten Blade Runner Film die Architektur eine ähnlich wichtige Rolle wie in den Filmen der 1920er und 1930er Jahre. Es gibt darin etliche formale Rückgriffe auf die Filmarchitektur dieser Zeit. Die Filmarchitektur von Blade Runner ist nur zum Teil neu entwickelt worden.
KR: Sylvia Eiblmayr meint, dass dieser Nachhall der „modernen Angst“ in deinen Arbeiten „über das formale Vokabular erzeugt (wird), das sich in einem hohen Maße der Abstraktion, der Graphik, der Hell-Dunkel-Kontrastierung bedient“. Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass deinen Arbeiten jedes narrative Element fehlt?
PK: Wahrscheinlich verhält es sich ähnlich wie mit der Filmarchitektur des expressionistischen Films, bei der jegliche Gebrauchsfunktion aus der Architektur entfernt wurde, um eine maximale emotionale Aufladung zu implementieren. Auch meine Räume weisen einen hohen Abstraktionsgrad auf, wodurch ihnen jede Gebrauchsfunktion fehlt. Und dadurch wiederum stellen sich bestimmte Fragen nicht länger, wie etwa die der Funktion oder der Moral.
KR: Wenn von emotionaler Aufladung die Rede ist, sollte unbedingt auch deine Arbeit mit der weißen Ratte genannt werden, die du 2006 im Kölnischen Kunstverein gezeigt hast. Dabei ‚lief’ eine gefilmte weiße Ratte computeranimiert ununterbrochen und vervielfacht die lange Wand des Ausstellungsraumes entlang und war durch die breite Fensterfront des Raumes für die Dauer der Ausstellung auch von außen Tag und Nacht sichtbar. Obwohl ihr Weg präzise gelenkt war, erschien sie ziellos einer sich unendlich wiederholenden Vorwärtsbewegung unterworfen.
PK: Da wird die beunruhigende Seite des Ornaments der Masse evident, wie sie vor allem von Fritz Lang entwickelt worden ist.
KR: Die weiße Ratte taucht erstmals in einer frühen Papierarbeit von 1981 auf. 25 Jahre später hast du sie für die Ausstellung im Kölnischen Kunstverein reaktiviert. Steht das Wiederauftauchen der weißen Ratte in Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Angst und Unsicherheit als einem der Grundtopoi unserer Zeit?
PK: Wahrscheinlich ist das Angstmotiv bei der Ratte latent relevant. Wichtig ist auch der soziale Aspekt. Denn wenn ich die beiden Motive der Ratte und der Ameise vergleiche, die ja zu einer ähnlichen Zeit aufgetaucht sind, nämlich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, dann kann man gewisse Gemeinsamkeiten sehen, wie etwa die soziale Komponente, die für beide Spezies eine große Rolle spielt. Beide leben sie in einem hochentwickelten sozialen System. Für beide gilt auch, dass die Eigenschaften ambivalent wahrgenommen werden, die man mit ihnen assoziiert. Im Fall der Ameise ist es das kleine Ungeziefer, das omnipräsent und lästig ist, gleichzeitig aber mit positiv konnotierten Eigenschaften wie Disziplin, Fleiß und Organisation in Verbindung gebracht wird. Bei den Ratten ist es der Schädling, der im Untergrund lebt, gleichzeitig das faszinierende Untersuchungsobjekt von Wissenschaft und Forschung, das hohe Intelligenz und extreme Anpassungsfähigkeit aufweist. Beide Spezies leben nicht nur in der Natur, sondern auch in Städten.
Das Ameisen- und Rattenmotiv ist nicht zuletzt auch im gesellschaftlichen Kontext relevant. Wir sind ja ständig konfrontiert mit der Problematik des riesigen Kollektivs und der Frage danach, wie sich der Einzelne im Kollektiv verhält. Das ist auch der Grund warum im Computerbereich die Schwarmtheorien auftauchen, mit denen man versucht, kollektives Verhalten in Algorithmen zu fassen.
KR: Und interessanterweise folgt das Ameisen- und Rattenmotiv auch deinem Farbspektrum.
PK: Ja, die Ameise ist schwarz auf weißen Grund, die Ratte weiß auf schwarzen Grund.
KR: War also die Entscheidung, die weiße Ratte nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder zu reaktivieren mit all diesen Überlegungen verbunden?
PK: Ich habe mich immer intuitiv für Motive entscheiden bzw. intuitiv auf sie zurückgegriffen. So auch im Fall der weißen Ratte. Wenn man über einen langen Zeitraum hinweg mit einer kleinen Zahl selbstgewählter Motive arbeitet, dann werden ihre vielfältigen Subbedeutungen nach und nach immer klarer.