Gesichtshaftigkeit und Gesichtslosigkeit. Angesichts von Peter Koglers Arbeit.

Günther Rudolf Sigl, 1987

„Im sogenannten „verzögerten Entscheidungs Experiment“ haben wir durch eine hier und jetzt getroffene Entscheidung einen nicht wiedergutzumachenden Einfluß darauf, was wir über die Vergangenheit sagen werden wollen – eine seltsame Umkehrung der normalen Zeitordnung. Diese Kuriosität erinnert uns deutlicher denn je, daß die „Vergangenheit keine Realität hat außerhalb dessen, was in der Gegenwart aufgezeichnet wird“.“ John Archibald Wheeler, Jenseits des Schwarzen Loches (zitiert in: Durch 1, Graz 1986. In derselben Nummer Peter Koglers „Gesichter“ von Moskau-Wien-Paris-New York)

  1. 1. “Ja, das Gesicht hat eine große Zukunft, unter der Bedingung, daß es zerstört, aufgelöst wird. Unterwegs zum Asignifikanten, zum Asubjektiven.“ (Félix Guattari/Gilles Deleuze, Mille plateaux, p. 210).

 

  1. 2. Der Kapitalismus liebt Gesichter. Genauer gesagt liebt er das Gesicht. Der Kapitalismus liebt die Blicke, in denen die Gesichter sich offenbaren, verdichten, spiegeln, verführen. Genauer gesagt liebt er den Blick. Was liegt auf dem Weg von den Gesichtern zum Gesicht von den Blicken zum Blick? Und warum wird dieser Weg unterschlagen? Weil nur das Gesicht den Gesichtern zu Gesicht steht? Weil die Gesichter das Gesicht verlören, wenn da nicht das Gesicht wäre? Aber bekommt man das Gesicht je zu Gesicht? Ist bei aller semiotischer Degradierung oder Aus -Zeichnung des Gesichts die Singularität der Gesichter nicht irreduzibel? Der Kapitalismus liebt das Thema der Singularität. Er traktiert uns mit der Irreduzibilität. Gott mag tot sein, unsere Gesichter unterscheidet er weiter. Er hat 3 Milliarden genetische Buchstaben zur Verfügung.

 

  1. 3. „Ab dem 2. Monat folgt der Blick des Säuglings den Gesichtsbewegungen des Erwachsenen, und während er gestillt wird, fixiert er ohne Unterlaß das Gesicht der Mutter. Er lächelt ein Gesicht (oder eine Maske) an, aber nur unter der Bedingung, daß er es frontal sieht.“ (René Spitz, zitiert bei Guattari, L’inconscient machinique, p.76).
  2. 4. Vor dem Spiegel, vor der Reflexion setzt Guattari das „Gestalt-Zeichen der Gesichtshaftigkeit“ und den „weißen Schirm, auf dem ein immer schon gesichtshaftens Bewußtsein („Conscience visagéifiée“) eine „Person“ identifiziert. Die Positivität dieser Identifizierung fußt in einem grundlegenden Manichäismus: entweder die „Person“, die vermittelt ist durch diese Gesicht-Stimme, oder der Unsinn. Entweder ein „Ich“ oder die Auflösung jeder Sozietät.
  3. 5. Die Gesichtshaftigkeit funktioniert mithin als eine „binäre signifikante Maschine.“
  4. 6. Von der Binarität der Gesichtshaftigkeit ist es nicht weit zum linguistischen Binarismus, und ein unterirdischer Gang (ein „Rhizom“ würde Guattari sagen) führt zur Binärziffer und zum Digitalen „an sich“
  5. 7. Die Digitalis ist ein giftiger Rachenblütler, aus dem ein starkes Herzmittel gewonnen wird.
  6. 8. Verstreute Bemerkungen Peter Koglers, die ich zurückbehalten habe:
    -Immer jünger sind die, die Computerprogramme schreiben. Manche sind noch Kinder.
    -Nach dem Film „Bladerunner“ sagte Peter, er hätte zu dieser Filmsprache keinerlei Distanz, er mache „genau dasselbe“.
    -In Gesprächen über die Kunst immer wieder Kreisen um das Ende der utopischen (sozialen und formalen) Projekte.
    -Der Kunstbetrieb der Avantgarde – die „Achse“ Köln-New York – als „internationalisierter Salon“.
    -Skepsis gegenüber jeder Arbeit, in der eine konzeptuelle Vermittlung die visuelle Vehemenz hintansetzt.
    -Zur Ortlosigkeit: Er wundere sich jedesmal, daß der Arbeits- und Wohnort die Arbeit doch (noch) so stark beeinflußt.